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MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER

KONTRÄREN SEXUALEMPFINDUNG.

EINE

MEDIZINISCH-GERICHTLICHE STUDIE
FÜR ÄRZTE UND JURISTEN

VON

Dr. R. v. KRAFFT-EBING,

UND

WEIL. O. Ö. PROF. FÜR PSYCHIATRIE UND NERVENKRANKHEITEN AN DER K. K. UNIVERSITÄT

IN WIEN.

Vierzehnte vermehrte Auflage

HERAUSGEGEBEN VON

DR. ALFRED FUCHS

A. O. PROFESSOR FÜR PSYCHIATRIE UND NERVENKRANKHEITEN AN DER K. K. UNIVERSITÄT

IN WIEN.

STUTTGART

VERLAG VON FERDINAND ENKE

1912.
Ka

Alle Rechte vorbehalten.

Hoffmannsche Buchdruckerei Felix Krais, Stuttgart.

C671

189

1912

Vorwort zur ersten Auflage.

Die wenigsten Menschen werden sich vollkommen des gewaltigen Einflusses bewusst, welchen im individuellen und im gesellschaftlichen Dasein das Sexualleben auf Fühlen, Denken und Handeln gewinnt. Schiller in seinem Gedicht „Die Weltweisen" erkennt diese Tatsache an mit den Worten: „Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, erhält sie das Getriebe durch Hunger und durch Liebe."

Auffallenderweise hat auch von Seiten der Philosophen das sexuelle Leben eine nur höchst untergeordnete Würdigung erfahren.

Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Aufl., Bd. 2, p. 586 u. ff.) findet es geradezu sonderbar, dass die Liebe bisher nur Stoff für den Dichter und, dürftige Untersuchungen bei Plato, Rousseau, Kant ausgenommen, nicht auch für den Philosophen war.

Was Schopenhauer und nach ihm der Philosoph des Unbewussten, E. v. Hartmann, über sexuelle Verhältnisse philosophieren, ist so fehlerhaft und in seinen Konsequenzen so abgeschmackt, dass, abgesehen von den mehr als geistreiche Causeries, denn als wissenschaftliche Abhandlungen zu betrachtenden Darstellungen eines Michelet (L'amour) und Mantegazza (Physiologie der Liebe), sowohl die empirische Psychologie als die Metaphysik der sexuellen Seite des menschlichen Daseins ein noch nahezu jungfräulicher wissenschaftlicher Boden sind.

Vorläufig dürften die Dichter noch bessere Psychologen sein, als die Psychologen und Philosophen von Fach, aber sie sind Gefühls- und nicht Verstandesmenschen und mindestens einseitig in der Betrachtung des Gegenstandes. Sehen sie doch über dem Licht und der sonnigen Wärme des Stoffes, von dem sie Nahrung ziehen, nicht die tiefen Schatten! Mögen auch die Erzeugnisse der Dichtkunst aller Zeiten und Völker dem Monographen einer „Psychologie der Liebe" unerschöpflichen Stoff bieten, so kann diese grosse Aufgabe doch nur gelöst werden

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unter Mithilfe der Naturwissenschaft und speziell der Medizin, welche den psychologischen Stoff an seiner anatomisch-physiologischen Quelle erforscht und ihm allseitig gerecht wird.

Vielleicht gelingt es ihr dabei, einen vermittelnden Standpunkt für die philosophische Erkenntnis zu gewinnen, der gleichweit sich entfernt von der trostlosen Weltanschauung der Philosophen, wie Schopenhauer und Hartmann1), und der heiter naiven der Poeten.

Die Absicht des Verfassers geht nicht dahin, Bausteine zu einer Psychologie des Sexuallebens beizutragen, obwohl zweifelsohne wichtige Erkenntnisquellen für die Psychologie aus der Psychopathologie sich ergeben dürften.

Der Zweck dieser Abhandlung ist die Kenntnisnahme der psychopathologischen Erscheinungen des Sexuallebens und der Versuch ihrer Zurückführung auf gesetzmässige Bedingungen. Diese Aufgabe ist eine schwierige, und trotz vieljähriger Erfahrungen als Psychiater und Gerichtsarzt bin ich mir klar bewusst, nur Unvollkommenes bieten zu können.

Die Wichtigkeit des Gegenstandes für das öffentliche Wohl und. speziell für das Forum gebietet gleichwohl, dass er wissenschaftlich untersucht werde. Nur wer als Gerichtsarzt in der Lage war, über Mitmenschen, deren Leben, Freiheit und Ehre auf dem Spiele stand, sein Urteil abgeben zu müssen und sich der Unvollkommenheit unserer Kenntnisse auf dem pathologischen Gebiete des Sexuallebens in peinlicher Weise klar wurde, vermag die Bedeutung eines Versuches, zu leitenden Gesichtspunkten zu gelangen, voll zu würdigen.

Jedenfalls kommen auf dem Gebiete der sexuellen Delikte noch die irrigsten Anschauungen zum Ausdrucke und werden die fehlerhaftesten Urteile geschöpft, gleichwie die Strafgesetzbücher und die öffentliche Meinung von ihnen beeinflusst erscheinen.

Wer die Psychopathologie des sexuellen Lebens zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Abhandlung macht, sieht sich einer Nachtseite menschlichen Lebens und Elends gegenübergestellt, in deren Schatten das glänzende Götterbild des Dichters zur scheusslichen Fratze wird und die Moral und Aesthetik an dem Ebenbild Gottes" irre werden. möchten.

1) Hartmanns philosophische Anschauung von der Liebe in Philosophie des Unbewussten", Berlin 1869, p. 583, ist folgende: Die Liebe verursacht mehr Schmerz als Lust. Die Lust ist nur illusorisch. Die Vernunft würde gebieten, die Liebe zu meiden, wenn nicht der fatale Geschlechstrieb wäre ergo wäre es am besten, wenn man sich kastrieren liesse. Dieselbe Anschauung minus der Konsequenz findet sich schon bei Schopenhauer: „Die Welt als Wille und Vorstellung," 3. Aufl., Bd. 2, p. 586 u. ff.

Es ist das traurige Vorrecht der Medizin und speziell der Psychiatrie, dass sie beständig die Kehrseite des Lebens, menschliche Schwäche und Armseligkeit schauen muss.

Vielleicht gewinnt sie einen Trost in dem schweren Beruf und entschädigt sie den Ethiker und Aesthetiker, indem sie auf krankhafte Bedingungen vielfach zurückzuführen vermag, was den ethischen und ästhetischen Sinn beleidigt. Damit übernimmt sie die Ehrenrettung der Menschheit vor dem Forum der Moral und die der einzelnen vor ihren Richtern und Mitmenschen. Pflicht und Recht der medizinischen Wissenschaft zu diesen Studien erwächst ihr aus dem hohen Ziel aller menschlichen Forschung nach Wahrheit.

Der Verfasser macht den Ausspruch Tardieus (Des attentats aux moeurs): „Aucune misère physique ou morale, aucune plaie quelque corrompue qu'elle soit, ne doit effrayer celui qui s'est voué à la science de l'homme et le ministère sacré du médecin, en l'obligeant à tout voir, lui permet aussi de tout dire" zu dem seinigen.

Die folgenden Blätter wenden sich an die Adresse von Männern ernster Forschung auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und der Jurisprudenz. Damit jene nicht Unberufenen als Lektüre dienen, sah sich der Verfasser veranlasst, einen nur dem Gelehrten verständlichen Titel zu wählen, sowie, wo immer möglich, in Terminis technicis sich zu bewegen. Ausserdem schien es geboten, einzelne besonders anstössige Stellen statt in deutscher, in lateinischer Sprache zu geben.

Möge der Versuch, über ein bedeutendes Lebensgebiet dem Arzt und Juristen Aufschlüsse zu bieten, wohlwollende Aufnahme finden und eine wirkliche Lücke in der Literatur ausfüllen, die, ausser einzelnen Aufsätzen und Kasuistik, nur die Teilgebiete behandelnden Schriften von Moreau und Tarnowsky aufweist.

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