NEUROLOGISCHES CENTRALBLATT ÜBERSICHT DER LEISTUNGEN AUF DEM GEBIETE DER ANATOMIE, HERAUSGEGEBEN VON DR. E. MENDEL, PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERLIN, FÜNFZEHNTER JAHRGANG. MIT ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN IM TEXT. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. Sm NEUROLOGISCHES CENTRALBLATT. Uebersicht der Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie, Physiologie, Pathologie Fünfzehnter Herausgegeben von Professor Dr. E. Mendel zu Berlin. Jahrgang. Monatlich erscheinen zwei Nummern. Preis des Jahrganges 24 Mark. Zu beziehen durch Inhalt. I. Originalmittheilungen. 1. Weitere Mittheilungen über den Stabkranz des menschlichen Grosshirns, von Prof. Paul Flechsig. 2. Zur Frage von den secundären Ver- anderungen der weissen Substanz des Rückenmarks bei Erkrankung der Cauda equina, von Prof. L. O. Darkschewitsch. 3. Ueber eine wenig bekannte Form der Beschäftigungsneuralgie, II. Referate. Anatomie. 1. Sa un nuovo reperto nel nucleo delle cellule nervose, pel Roncoroni. 2. Di alcune particolarità di struttura dei centri nervosi osservate con l'uso dell' aldeide acetica nell' applicazione del metodo Golgi, del Vassale e Donaggio. 3. Sul peso del cranio e della mandibola nei normali, nei pazzi e nei delinquenti, del Gurrieri. Experimentelle Physiologie. 4. Ueber die physiologische Bedeutung der Schleifen- schicht im Gehirn für die Sensibilitätsleitung, von Bogatschow. Pathologische Ana- tomie. 5. Degenerations consequent on experimental lesions of the cerebellum, von Russel. 6. Ueber die topographische Vertheilung der endoneuralen Wucherungen in den peripherischen Nerven des Menschen, von Howald. Pathologie des Nervensystems. 7. Ueber die willkürliche Erweiterung der Pupille, von v. Bechterew. 8. Ueber Herz- und Gefässneurosen, Von Determann. 9. De l'origine infectieuse de la paralysie ascendante aiguë ou maladie de Landry, par Oettinger et Marinesco. 10. Ein unter dem Bilde der Landry'schen Paralyse toutlich verlaufener Fall von acuter multipler Neuritis, von Vranjican. 11. Ein Fall von Landry'scher Paralyse mit Ausgang in Genesung, von Behrend. 12. Ein seltener Fall von Polymyositis und Neuritis, von Levy-Dorn. 13. Ein weiterer Beitrag zur Aetiologie der mul- tiplen Neuritis in den Tropen, von Glogner. 14. Ueber Malaria - Lähmungen, von Csillag. 15. Des paralysies laryngées dans la fièvre typhoide, par Boulay et Mendel. 16. Ueber Lähmungen in den oberen Luftwegen bei Infectionskrankheiten (Typhus abdominalis, Diph- therie, Influenza), von Lublinski. 17. Ueber einen Fall von Ulnarislähmung nach Typhus abdominalis, von Wolf. 18. On diphtheritic paralysis, by Goodall. 19. Association of respi- ratory paralysis with cardio-pulmonary symptoms in diphtheritic paralysis, by Pasteur. 20. Anatomische Untersuchung eines Falles von ausgedehnter postdiphtheritischer Lähmung mit negativem Resultate, von Hasche. 21. On the recognition of peripheral neuritis and some points in its treatment, by Cagney. 22. Un cas de psychose polynévritique, par Sollier. 23. Lead-palsy in children, by Newmark. 24. Blood examinations regarding the malarial origin of zoster, by Winfield. 25. Récidive de zona, par Duhreith. 26. Polyneuritis bei chro- nischer Bleiintoxication, von Posselt. 27. Mielite curata coll' arsenico omeopaticamente, del Bonino. 28. Weitere Beiträge zur Lehre von der Tetanie, von Schultze. 29. Ein Fall von Paralyse des Deltoideus, von Brothers. 30. Note sur un cas de nodosités cutanées avec migraine concomitante apparaissant à chaque époque menstruelle chez une arthritique, par Hobbs. 31. Di alcune proprietà speciali alle sostanze tossiche prodotte dai microorganismi del maiz guasto. Nota preventia del Tirelli. 32. Der Lathyrismus, von Keshewnikow. - Psychiatrie. 33. La pazzia nei tempi antichi e nei moderni, del Lombroso. 34. Homo- I. Originalmittheilungen. 1. Weitere Mittheilungen über den Stabkranz des Von Prof. Paul Flechsig. Ich habe bereits in meinen früheren Mittheilungen (dieses Blatt 1895 Nr. 23 und 24) darauf hingewiesen, dass die Stabkranzbündel zwar im Allgemeinen auf dem kürzesten Weg radiär von der inneren Kapsel zur Rinde verlaufen, dass einzelne Abtheilungen indess auffällige Umwege machen. Diese Thatsachen scheinen mir für die topische Diagnostik der Gehirnkrankheiten so wichtig, dass ich es für zweckmässig halte, näher auf dieselben einzugehen. 1. Der sog. Fasciculus longitudinalis inferior BURDACH wurde bisher beschrieben als ein Associationssystem, welches den Hinterhauptslappen mit dem gesammten Schläfenlappen, besonders auch seinen vorderen Abschnitten verbindet. Ich habe bereits früher erwähnt, dass dies ein grober Irrthum ist. Das untere Längsbündel ist eines der am frühesten sich mit Mark umhüllenden Bündel des Grosshirnmarkes und lässt sich in Folge dessen beim ca. 1 Woche alten Neugeborenen vollständig und genau übersehen. Es ergiebt sich hierbei, dass die fraglichen Bündel allerdings nach hinten im Hinterhauptslappen, speciell in der Sehsphäre endigen, dass sie aber nach vorn nicht mit der Rinde sondern mit dem Thalamus opticus sich verbinden. Sie machen hierbei einen beträchtlichen Umweg, indem sie im Schläfenlappen nach vorn laufen bis zur Gegend unmittelbar nach aussen-hinten vom Mandelkern und hier nach oben umbiegen mit zum Theil spitzwinkliger Knickung, so dass sie das Unterhorn von vornher umgreifen. Im Thalamus treten sie theils mit den basalen Abschnitten des Lateralkerns bezw. dem „,schalenförmigen Körper" in Verbindung, zum Theil steigen sie an der hinteren Fläche des Pulvinar im Stratum zonale in die Höhe und gelangen in den Hauptkern (FLECHSIG VON TSCHISCH). Sie durchflechten hierbei ein starkes Faserbündel, welches von der oberen Fläche des äusseren Kniehöckers aus durch das Pulvinar nach dem hinteren Stratum zonale zieht, und hängen die Fasern beider Bündel wohl zum Theil zusammen. Der Fasciculus longitudinalis inferior ist also nichts weiter als ein Theil der Sehstrahlung GRATIOLET'S. Er wird auf seinem Weg vom Sehhügel zur Aussenseite des Unterhorns begleitet von Stabkranzbündeln des Thalamus, welche zu Riechsphäre und Ammonshorn ziehen und aussen vom Mandelkern nach vorn umbiegen. Hierdurch entsteht der Anschein, als ob Fasern des Fasciculus longitudinalis inferior zur Hakenwindung u. s. w. zögen. Aus der Sehstrahlung treten dicht hinter dem Thalamus (noch bevor sie den Aussenrand des Ventrikels erreicht) zahlreiche Fasern in den Schläfen lappen über; es handelt sich hier zum Theil um Stabkranzbündel der Hörsphäre, welche vom inneren Kniehöcker herbeiziehen, zum Theil um Thalamusfasern. Es ist auf rein anatomischem Weg nicht mit Sicherheit auszuschliessen, dass einzelne Bündel, welche zwischen 1. Schläfenwindung und Sehstrahlung laufen, in letzterer nach hinten umbiegen und zur Sehsphäre ziehen. So lange aber nicht nachgewiesen ist, dass bei Erkrankung der Sehsphäre grade diese Fasern secundar degeneriren, schwebt die Annahme, dass es sich hier um Associationssysteme zwischen Seh- und Hörsphäre handelt, durchaus in der Luft. An und für sich würde es ja denkbar sein, dass auch im Stabkranz gelegentlich Associationsbündel verlaufen, dass Bündel des ersteren den letzteren als Leitbänder dienen; indess ist diese Frage bisher nicht mit Sicherheit gelöst. Zwischen Thalamus und Sehsphäre gehen also von der Sehstrahlung Bündel, welche man mit einiger Sicherheit für Associationssysteme erklären könnte, nicht ab. Es treten vom Gyrus angularis, der 2. Schläfen windung u. s. w. her Fasern mehr oder weniger rechtwinklig an die Sehstrahlung heran; sie laufen aber hindurch zur Balkenschicht zunächst der Ventrikelwand. Diese Thatsachen erscheinen besonders einschneidend gegenüber den Folgerungen, die SACHS auf die Annahme gegründet hat, dass sein im Wesentlichen mit dem Fasciculus longit. inferior identisches Stratum sagittale externum das wichtigste Associationssystem zwischen der Sehsphäre und den an der Sprache betheiligten Rindengebieten des Schläfenlappens, insbesondere auch der ersten Schläfenwindung bilde. Das Stratum sagittale externum hat in der Hauptsache sicher mit Associationsvorgängen nichts zu schaffen und somit auch nicht mit der Association von Gesichts- und Gehörseindrücken, bezw. deren Erinnerungsbildern es ist eben ein Stabkranzbündel. Hiermit fällt auch die von SACHS aufgestellte, von Anderen vielfach wiederholte Behauptung, dass der Schläfenlappen bezüglich des Besitzes von Associationssystemen, besonders langen, alle anderen Grosshirntheile übertreffe, und dass so die anatomische Untersuchung „die unheimliche Gewalt verstehen lehre, welche das Wort über den Menschen hat". Das von mir als temporales Associationscentrum bezeichnete Gebiet (2., 3. Schläfen- und Spindelwindung) lässt allerdings äusserst zahlreiche, kurze und mittellange Associationssysteme erkennen, desgleichen viele Balkenfasern, aber keineswegs mehr, als das parietale Associationscentrum, welches sogar an Balkenfasern reicher zu sein scheint. In der 1. Schläfenwindung läuft ein besonders mächtiges Bündel zwischen Hörsphäre und Spitze des Schläfenlappens. 1 Meist zum Gyrus temporalis transversus anterior, in geringerer Zahl zum posterior. Der erstere nimmt in Bezug auf die Markentwickelung eine ganz besondere Stellung unter den Schläfen windungen ein, indem er allen anderen weit vorauseilt. Der Stabkranz der Hörsphäre, welche zum grössten Theil in ihm liegt, setzt sich aus zwei getrennt verlaufenden Bündeln zusammen, einem oberen, mehr horizontal, auf dem kürzesten Weg aus der inneren Kapsel einstrahlenden und einem unteren, zunächst mit der Sehstrahlung zur Aussenseite des Unterhorns verlaufenden und dann vertical aufsteigenden. Wie mir scheint hängen besonders die letzteren Fasern mit dem Corpus geniculatum internum zusammen. |